Wohnungsbaugesellschaft

10. Oktober 2019  Antrag, Wohnen

Ein Antrag aus Reutlingen zur Neuausrichtung unserer städtischen Wohnbaugesellschaft.

Oberbürgermeisterin Barbara Bosch Marktplatz 22 72764 Reutlingen 19. April 2018 GWG Reutlingen Wohnungsgesellschaft mbH Neuausrichtung

Sehr geehrte Frau Oberbürgermeisterin Bosch, aus gegebenem Anlass reichen wir nachstehenden A n t r a g ein: Die Oberbürgermeisterin als Vertreterin der Stadt Reutlingen wird angewiesen, in der Gesellschafterversammlung der GWG Reutlingen bei nächstmöglicher Gelegenheit folgende B e s c h l ü s s e herbeizuführen: I. Es wird eine Machbarkeitsstudie gemeinsam von Stadt und GWG in Auftrag gegeben zur strategischen Neuausrichtung der künftigen unternehmerischen Tätigkeit der GWG im Sinne einer freiwilligen Wohnungsgemeinnützigkeit. II. Ausschreibungstext und Auftragsvergabe für diese Studie sind zwischen Stadt und GWG einvernehmlich abzustimmen. Ausschreibung sowie Vergabe unterliegen der Beschlussfassung des Gemeinderats. III. Mit dieser Machbarkeitsstudie soll die Realisierbarkeit insbesondere folgender künftiger Unternehmensziele der GWG untersucht werden: 1. Der Anteil der Sozialwohnungen bzw. der analog zu behandelnden Wohnungen an neuem Wohnraum wird innerhalb eines Zeitraums von zehn Jahren erhöht auf 50 %. 2. Die GWG betätigt sich bei Neuvorhaben und Sanierungen zunächst für die Dauer von zehn Jahren grundsätzlich als Träger für den Mietwohnungsbau. 3. Die GWG erstellt innerhalb eines Zeitraums von zehn Jahren jährlich mindestens 200 Mietwohnungen, davon mindestens 50 % Sozialwohnungen mit jeweils maximal möglicher Bindungsdauer sowie ohne Möglichkeit, diese aus bereits vorhandenem Bestand ausweisen zu dürfen. 4. Bestandswohnungen sowie neu erstellte Wohnungen verbleiben auf Dauer im Eigentum der GWG. 5. Die GWG erwirbt gezielt leerstehende bzw. sanierungsbedürftige Wohnobjekte und renoviert diese in einfacher Weise mit dem Ziel der Vermietung. 6. Bestehende „Andere Gewinnrücklagen“ der GWG werden innerhalb eines Zeitraums von zehn Jahren abgeschmolzen von € 218 Mio. – Stand 31.12.2016 – um ca. € 80 Mio. sowie diese Mittel reinvestiert ausschließlich in die Bereiche Neubau und Sanierung. 7. Mieten neu erstellter bzw. sanierter Wohnungen werden festgelegt gemäß den jeweils gültigen Richtlinien über die Wohnraum-Förderung oder ansonsten als Kostenmieten. 8. Im Wohnungsbestand der GWG bleiben Mieterhöhungen bis auf Weiteres gedeckelt auf höchstens 2 % jährlich. 9. Neuvermietungen der GWG werden zu mindestens 75 % an Personen und Haushalte mit Wohnberechtigungsschein vorgenommen, davon zu mindestens 25 % an besondere Bedarfsgruppen – z. B. Leistungsbezieher gemäß SGB II und Flüchtlinge – . 10. Die vor Jahren bei der GWG abgeschafften Instrumente und Strukturen für Transparenz sowie soziale Balance wie die Bewerberliste, die Dringlichkeitsliste für soziale Härtefälle, die Bürger- bzw. Mieter-Sprechstunde sowie der Wohnungsvergabe-Ausschuss sind baldmöglichst wieder einzuführen. Dabei ist die Zusammenarbeit mit dem Sozialamt der Stadt Reutlingen, insbesondere mit der Obdachlosenbehörde, in verbindlicher Weise zu gewährleisten. 11. Die derzeit aus innerbetrieblichen Gründen bestehenden Wohnungs- Leerstände bei der GWG sind baldmöglichst nachhaltig zu beseitigen. 12. Untersucht wird, wie die Fachdezernenten der Stadt in die Verantwortungs- und Entscheidungsstrukturen der GWG an sachlich zielführender Stelle eingebunden werden können. 13. Die Mieter-Mitbestimmung bei der GWG bedarf der deutlichen Stärkung. Hierfür wird die Mieter-Vertretung bei der WGR als eigenständige Institution neu zu definieren sein. 14. Die HBG-Heizwerkbetriebsgesellschaft Reutlingen mbH wird übertragen an die Stadtwerke Reutlingen GmbH oder FairEnergie bzw. FairNetz GmbH. Konto: KSK Reutlingen | IBAN: DE31 6405 0000 0008 9010 39 | BIC: SOLADES1REU lilirt.wordpress.com | die-linke-reutlingen.de 15. Bei Zeitablauf der Bestellungen der Geschäftsführer sollen sich deren Provisionen aus dem Dienstverhältnis künftig orientieren nicht an Gewinn/Ertrag, sondern an der Anzahl der neu erstellten Wohnungen – insbesondere der Sozialwohnungen – und somit an qualitativen Unternehmenszielen. 16. Die Stadt Reutlingen verzichtet zunächst für die Dauer von zehn Jahren auf eine Gewinn-Ausschüttung der GWG. Die Stadt erklärt sich grundsätzlich dazu bereit, der GWG komplementäre Finanzierungsmittel zur Verfügung zu stellen, soweit die o. g. Unternehmensziele die finanziellen Möglichkeiten der GWG signifikant übersteigen. 17. Die Stadt Reutlingen stellt der GWG im Rahmen ihrer Möglichkeiten und in gesetzlich zulässiger Weise bevorzugt preisgünstiges Bauland zur Verfügung, vorzugsweise im Wege des Erbbaurechts. Die Stadt forciert beschleunigte Bebauungsplanverfahren im Sinne § 13 a Baugesetzbuch. B e g r ü n d u n g : 1. Reutlingen befindet sich zwar im Geltungsbereich der durch das Land Baden-Württemberg per Rechtsverordnung verfügten Mietpreisbremse bzw. Kappungsgrenze. Umfasst davon sind 68 (Mietpreisbremse) bzw. 44 (Kappungsgrenze) Städte und Gemeinden in unserem Bundesland mit angespanntem Wohnungsmarkt. Gemäß einer Studie der Berliner Morgenpost liegt Reutlingen innerhalb der 77 Großstädte der Bundesrepublik Deutschland bei den Mietpreisen dennoch auf Rang 24 – zwischen Augsburg und Nürnberg – , somit im vorderen Drittel der ohnehin hochpreisigen Städte. Höchst interessante und ebenso alarmierende Werte für Reutlingen ergeben sich zudem aus einer auf Basis des Mikrozensus 2014 erstellten aktuellen Studie der Hans-Böckler-Stiftung: Zwar zeigt sich der Grad der Unterversorgung an Wohnungen im Vergleich eher niedrig – dies gilt aber auch etwa für München, die Stadt mit dem wohl schwierigsten Wohnungsmarkt im gesamten Bundesgebiet; dagegen resultiert das Versorgungspotential – diese Kennzahl weist aus, welche Anzahl an Wohnungen zu leistbaren Konditionen für die einzelnen Einkommensklassen zur Verfügung stehen – für Haushalte mit durchschnittlichem sowie mäßig unterdurchschnittlichem Einkommen extrem gering: Reutlingen kommt danach mit gerade einmal 54 % der zweit-schlechteste Wert nach München zu. Ganz eklatant erweist sich diese Quote in der gängigen Wohnungsgröße von 75 bis 90 m² mit lediglich 39,7 %. Insgesamt verfügt also in Reutlingen nur etwa die Hälfte der Mieter-Haushalte der Mittelschicht über eine für sie finanziell verkraftbare Wohnung. Gemeinsam für Reutlingen und München gilt, dass der jeweilige Wohnungsmangel bei einer idealtypischen Verteilung der dortigen Wohnungen überschaubar wäre. Tatsächlich aber sind in Reutlingen offensichtlich zahlreiche, noch relativ günstige Wohnungen von Besserverdienenden belegt, während Mieter mit mittlerem und geringerem Einkommen in für sie zu teuren Wohnungen leben. Ein Grund hierfür könnte ein unzureichender „Sickereffekt“ sein, was wiederum liegen dürfte an einem mangelnden Angebot von leistbaren Alternativwohnungen – genauer: mangelnder Bautätigkeit. Eine Momentaufnahme bei Deutschlands größter Immobilien-Plattform im April 2018 ergab für die Stadt Reutlingen eine Angebots-Palette von insgesamt 40 Mietwohnungen zwischen 20 und 220 m² Wohnfläche: Innerhalb des Kennwerts für bezahlbaren Wohnraum – das Pestel-Institut ermittelt einen Wert von 7,50 €/m², die Hans Böckler-Stiftung nennt als Bundesmedian 8,- €/m² – findet sich lediglich ein einziges Mietangebot in einem typischen Altbau (1914) mit 7,- €/m². Als akzeptabel können noch die nächst höheren Mieten mit 8,30 bzw. 8,60 €/m² durchgehen. Alle anderen Mieten liegen mehrheitlich zwischen € 9,- und 10,- je m². Insgesamt rangiert der Durchschnitt bei ca. 10,- €/m²; für Neubauwohnungen werden € 11,50 pro m² verlangt. Der höchste Mietzins weist 19,50 €/m² aus – ein Fall von Mietwucher! 2. Damit ist evident, dass es in Reutlingen in besonderem Maße fehlt an bezahlbarem Wohnraum für breite Bevölkerungsgruppen. Durch Zuzug verschärft sich dieser Mangel von Jahr zu Jahr; außerdem steigen auch die Mietpreise selbst weit überproportional an – im bundesweiten Durchschnitt 2016 um 4,9 %, 2017 um 4,5 %. Der Zielwert der Reutlinger Wohnbauflächenoffensive von 500 zusätzlichen Wohnungen jährlich reicht nicht aus, diesen Mangel an Wohnraum – insbesondere fehlen Sozialwohnungen – zu beseitigen; nach dem gegenwärtigen Fortgang jener Projekte wird außerdem selbst diese Vorgabe kaum zu realisieren sein. Die Stadt selbst übt bei der Bautätigkeit keine aktive Rolle aus und wirkt lediglich mit an deren Rahmenbedingungen: Dabei sollen über 80 % des Zielwertes von Privaten hergestellt werden; die städtische Tochter GWG beteiligt sich hieran lediglich mit pro Jahr geplanten 86 Wohneinheiten, darunter 30 % Sozialwohnungen. 3. Die GWG Reutlingen ist 1951 gegründet worden als Wohnungsunternehmen der Stadt Reutlingen. Der Beitrag unserer GWG zur Wohnraumversorgung nach dem Zweiten Weltkrieg war immens und landesweit beispielhaft: als Exempel sei die „Gartenstadt Orschel-Hagen“ benannt für ursprünglich ca. 10.000 Bewohner. Noch heute ist der Unternehmenszweck im Gesellschaftsvertrag der GWG wie folgt beschrieben: „(…) vorrangig eine sozial verantwortbare Wohnungsversorgung für breite Schichten der Bevölkerung sicher zu stellen.“ Nach dem Wegfall der Wohnungsgemeinnützigkeit per 31.12.1989 bei gleichzeitiger faktischer Einstellung des Sozialen Wohnungsbaus hat sich die GWG Reutlingen schrittweise von dieser ihrer ursprünglichen Zweckbestimmung wegbewegt. Eine nennenswerte Steuerung dieses Prozesses durch die Mehrheitsgesellschafterin Stadt Reutlingen – sie hält 77,5% des Stammkapitals – ist dabei unterblieben. Im Lauf der Jahre entwickelte sich die GWG zu einem prosperierenden, betriebswirtschaftlich orientierten Wohnungsunternehmen, dessen oberstes Gebot „wirtschaftliches Denken und Handeln“ bildet. Die GWG betätigte sich verstärkt im Bauträger-Geschäft und erstellte u. a. hochpreisige Eigentumswohnungen, Einfamilien- und Reihenhäuser sowie auch Gewerbeimmobilien. So sind sukzessive enorme Rücklagen von derzeit insgesamt über € 250 Mio. angesammelt worden – ein im Vergleich zu anderen kommunalen Wohnungsunternehmen exorbitant hoher Wert. Im Zusammenhang mit einer Organisationsänderung im Jahre 2012 wurde die bis dahin bestehende Bewerberliste aufgelöst und durch einen „Interessentenbogen“ ersetzt, der nach sechs Monaten seine Gültigkeit verliert. Die Sprechstunde für Wohnungssuchende und Mieter ist ersatzlos gestrichen worden, ein direkter Kontakt zu den Ansprechpartnern der Wohnungsvergabe nicht mehr möglich. Ebenfalls aufgelöst wurde der bis dahin bestehende Wohnungsvergabe-Ausschuss. Nach welchen Kriterien frei werdende Wohnungen seitdem vergeben werden, ist selbst bei der Obdachlosenbehörde der Stadt Reutlingen – mit der eine verbindliche Kooperation in Frage steht – nicht bekannt. Soziale Dringlichkeitsfälle können sich – mit geringen Erfolgsaussichten – allenfalls an die örtlichen Träger der Sozialarbeit wenden; bei unserer GWG genießen sie keine Priorität. Das mittelfristige Ziel der GWG, ca. 86 Wohneinheiten/Jahr, darunter 30 % Sozialwohnungen neu herzustellen, bleibt vor diesem Hintergrund wenig ambitioniert. Von einem kommunalen Wohnungsunternehmen darf deutlich mehr soziale Verantwortung und Engagement erwartet werden. Gerade jetzt, nach Fertigstellung und Bezug des Neubaus der GWG-Verwaltung selbst, dürften Kapazitäten im Baubereich frei werden und räumliche Reserven für eine Aufstockung des Personals bestehen. Dies erscheint auch deshalb notwendig, weil immer wieder Fälle von längerfristigem Leerstand nach Auszug von Mietern bekannt werden, für die die Renovierung nicht rechtzeitig beauftragt wird. 4. Dafür, dass die Stadt Reutlingen endlich nachhaltig Einfluss auf ihr kommunales Wohnungsunternehmen GWG ausübt, wird es allerhöchste Zeit. Habhafte Einwirkung ist sehr wohl eröffnet durch die der Stadt zur Verfügung stehende Stimmen-Mehrheit in der Gesellschafter-Versammlung. Vertreten wird die Stadt dabei durch die Oberbürgermeisterin, die ihrerseits wiederum durch den Gemeinderat der Stadt entsprechend zu beauftragen bleibt. 5. Die strategische Neuausrichtung der GWG sollte sich an den Grundsätzen der früheren Wohnungsgemeinnützigkeit orientieren. Eine neue gesetzliche Wohnungsgemeinnützigkeit bildet zwar bundespolitisch ein Thema – und diese wird auch z. B. durch den Deutschen Städtetag befürwortet – ; eine Realisierung ist derzeit aber noch nicht in Sicht. Bis zur Umsetzung jener Bestrebungen verfügen die betreffenden Kommunen über die Möglichkeit, aktiv an der Eindämmung der Wohnungsnot mitzuwirken, indem sie ihre kommunalen Wohnbaugesellschaften zielgerichtet als Instrument einsetzen. Da die Steuer- Befreiungen der früheren Wohnungsgemeinnützigkeit entfallen sind, haben die Kommunen unterstützend mitzuwirken, z. B. durch die Bereitstellung von preisgünstigem Bauland oder komplementärer Finanzmittel. Zur exakten Zieldefinition bedarf es einer unabhängigen Analyse der sachlichen und wirtschaftlichen Leistungsfähigkeit der GWG. Hierfür empfiehlt sich eine gemeinschaftlich durch Stadt und GWG zu beauftragende Machbarkeitsstudie mit den Inhalten des vorstehenden Beschlussvorschlags. Auf diese Weise könnte die GWG Reutlingen wieder zu einem landesweit vorbildlichen Modell für eine soziale Wohnraumversorgung entwickelt werden. Die Reutlinger Visionen und Pläne für infrastrukturellen Wandel, die Digitalisierungsprozesse sowie der Ausbau hin zu einem zukunftsorientierten Wirtschaftsstandort – beispielhaft benannt sei hier das „Industriegebiet der Zukunft“ auf dem früheren Gewerbe-Areal Willi Betz – werden weiterhin junge, innovative Menschen nach Reutlingen ziehen, die als Berufsanfänger oft nicht in der Lage sind, für sich und ihre Familien überteuerte Mieten zu entrichten oder überhaupt in Stadtnähe eine Wohnung zu finden. Neben unserer sozialen Pflicht, ausnahmslos jedem Menschen eine bezahlbare Wohnung zu ermöglichen, sehen wir deshalb die soziale Wohnraumversorgung als relevante Komponente einer integrativen, strategischen Stadtentwicklung Reutlingens. Nicht zuletzt stehen diese von uns beantragten Maßnahmen für einen nachhaltigen Markenbildungsprozess der Stadt: denn zu einer lebenswerten und attraktiven Stadt – sowie zu ihrem anziehenden Ruf – gehört ganz elementar bezahlbarer Wohnraum. Für alle. Mit freundlichen Grüßen Rüdiger Weckmann und Thomas Ziegler Stadträte Linke Liste Reutlingen